Didaktische und epistemologische Herausforderungen historisch-kritischen Geschichtsunterrichtes aus einer deutsch-französischen Perspektive – eine empirische Videographiestudie

CERC-Projekt von Victor Söll

Deutschland und Frankreich teilen dieselben demokratisch-liberalen Grundwerte wie Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Rechtstaatlichkeit und Menschen- und Bürgerrechte, um einige zu nennen. Eine „éducation à la démocratie“ verbunden mit der Herstellung eines offiziellen Gedächtnisses ist an Schulen deshalb geradezu konstitutiv, bedenkt man, dass Bildung Staatsangelegenheit ist. John Dewey verweist bereits 1916 auf den Zusammenhang zwischen Democracy und Education. In seinem gleichnamigen Werk ist von der „Demokratie als Lebensform“ die Rede: Demokratie nicht als reine Regierungsform, sondern als freie, soziale Interaktion (Dewey 1916). Für die geisteswissenschaftlichen Fächer, insbesondere Geschichte, bedeutet dies, dass der praktische Unterricht an dem Prinzip der ateleologischen Untersuchung inquiry ausgerichtet sein sollte, um einen Erkenntnisprozess zu fördern und damit die Denkfähigkeit zu entwickeln (Dewey 2014 [1929]). Der spezifische Erkenntnisgewinn ist dabei zweitrangig.

Obwohl ein Staat legitimerweise versucht, Werte über die Herstellung eines offiziellen Gedächtnisses mit der Vergangenheit zu verbinden, kann ein demokratischer Staat anders als das autoritäre Regime nicht auf die Singularität einer Erinnerung setzen, da diese lebendig ist und von der Dialektik mit ihrer permanenten Infragestellung lebt (Horkheimer und Adorno 1996[1944/1969]). Normativ-erzieherische und kontrovers-analytische Dimensionen stehen hier also in einem scheinbar unüberwindbaren Spannungsfeld zueinander, das insbesondere die Herangehensweise an den gesellschaftswissenschaftlichen Geschichtsunterricht bestimmt. Überwinden lässt sich dieses Spannungsfeld jedoch, sobald die historische Methode der kritischen Quellenanalyse als Ausdruck einer Normativität verstanden wird und als ein
Instrument zur mündigen Demokratiebildung (Audigier 2018). Dabei entsteht „Historische Nachdenklichkeit“, davon ist Bergmann überzeugt, vor allem in der wertfreien Einsicht, dass Menschen in ihrer spezifischen historischen Lage früher anders gedacht und gehandelt haben (Bergmann 2004). Jedoch belegen empirische Studien, dass Schülerinnen und Schüler über Ländergrenzen hinaus in ihrem naiv-perspektivischen Denken nur selten eine historisch- kritische Attitude einnehmen und das von Geschichtstheoretiker Sam Wineburg geforderte „Unnatural Thinking“ betreiben (Wineburg 1999, Maggioni 2009, Cariou 2012, Gomes 2023).

Vor diesem Hintergrund besteht in der schulbezogenen Geschichtsdidaktik in Deutschland wie in Frankreich das Ziel, Lernende in ihrem historischen Reflexionsprozess zu fördern. Im Ergebnis werden geschichtstheoretisch – und vermutlich auch praktisch – allerdings unterschiedliche Schlussfolgerungen auf beiden Seiten des Rheins gezogen: In Frankreich zielt die Tradition des „l’esprit critique“ auf die argumentative Überwindung eines vorschnellen Urteils, während in Deutschland im Konzept des „Geschichtsbewusstseins“ das Urteil als Höhepunkt, ja Vollendung einer Arbeitsphase angesehen wird. Während sich die französische Geschichtsdidaktik eher mit den Problemfeldern Objektivität, Anachronismuslehre und Dekonstruktion auseinandersetzt, konzentriert sich die deutsche Geschichtsdidaktik auf Subjektivität, moralische Sinnstiftung und narrative Rekonstruktion. Dabei reflektieren die Forscher*innen primär die didaktische Realität und theoretischen Diskussionen innerhalb ihres jeweiligen nationalen Kontextes, ohne dass es zu einer systematischen, länderübergreifenden Zusammenarbeit kommt (Hollstein 2002, Zwölfer 2003, Henke-Bockschatz 2011, Stupperich 2018, Audigier 1993, Cariou 2012, Doussot 2012). Trotz des regen Austauschs zwischen deutschen und französischen Geschichtsdidaktiker*innen, der 2006 zur Herausgabe des ersten binationalen Geschichtsbuchs führte, gibt es auch deshalb bislang noch keine vergleichenden Forschungsvorhaben, die die geschichtsdidaktischen Praktiken aus einer deutsch-französischen Perspektive in den Blick nehmen. Mit einer empirischen Arbeit, die die Unterrichtspraxis in Deutschland und Frankreich anhand von Fallstudien videographisch untersucht und sich darüber hinaus mithilfe von Fragebögen und Interviews für die epistemologischen Überzeugungen von Lehrkräften und Lernenden interessiert, wird hier Abhilfe geschaffen. In einer schwerpunktmäßig qualitativen Studie, die die Unterschiede der institutionellen Rahmenbedingungen berücksichtigt, wird mit dem komparatistischen Blick der „regards croisés“ (Werner und Zimmermann 2002) geprüft, ob und inwieweit sich die historische Untersuchung unterscheidet, welche Unterrichtsziele dabei verfolgt werden und wann die jeweiligen Akteure von „gutem Geschichtsunterricht“ sprechen.

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