Französische Literaturdidaktik. Literarisch-ästhetische Bildung im modernen Fremdsprachenunterricht
CERC-Projekt von Roland Ißler
Die Geschichte des modernen Fremdsprachenunterrichts und des akademischen Ringens um seine jeweilige didaktische Legitimation ist gekennzeichnet von wechselnden Pendelausschlägen. Seit den 1970er Jahren sind neben der befürchteten „Linguistisierung“ auch Warnungen vor der „Philologisierung“ des Lehramtsstudiums dokumentiert, auch wenn die Bedeutung literarischer Texte für den Fremdsprachenerwerb gleichwohl nie grundsätzlich in Frage stand. Nachdem die Rezeption literarischer Texte, sei es durch Übersetzung oder zelebrierende Lektüre, die längste Zeit die Unterrichtspraxis dominierte, wird in der Folge der Einführung von Bildungsstandards hingegen oftmals geradezu eine Marginalisierung der Literatur beklagt.
Dass „Zielsetzungen ästhetisch-literarischen Lernens in Zeiten der Kompetenzorientierung nicht mehr per se eine Daseinsberechtigung in fremdsprachendidaktischen Kontexten beanspruchen [können]“ (Küster 2015, 15), ist nicht nur der Reduktion auf alltägliche Kommunikationssituationen, sondern auch einem generell verkürzenden, funktionalistischen Verständnis von Sprachverwendung geschuldet. So steht bei der Textrezeption eine vor allem auf Informationsentnahme abzielende technische Lesefertigkeit im Vordergrund, wie sie als Verstehensbedingung für einen literarischen Text zwar zweifellos notwendig, nicht aber im eigentlichen Sinne für ihn wesentlich ist. Literatur ausschließlich unter dem Rubrum des funktionalen Lesens zu behandeln und zugleich die restlose Vergleichbarkeit von Lektüreerträgen zu postulieren, blendet einerseits das lesende Subjekt aus, dessen Integration in die Fremdsprachendidaktik Literaturtheorien wie die Rezeptionsästhetik seinerzeit jahrzehntelang gebahnt und schließlich erfolgreich erstritten haben, und verengt oder missachtet andererseits den mit ihr verbundenen ästhetischen Bildungswert.
Auf die sinnliche Wahrnehmung von Texten abzielende Vorstellungen von Susan Sontags Erotics of Art (1964) über Roland Barthes’ Plaisir du texte (1973) und Daniel Pennacs Droits du lecteur (1992) bis hin zu Elvira Lindos Leer a su lado (2008) entziehen sich einer messbaren Operationalisierung und sind in Kompetenzrastern schlichtweg nicht abbildbar, verdienen jedoch im bildungsorientierten Fremdsprachenunterricht durchaus Beachtung, denn literarische Bildung kann letztendlich nicht erreicht werden, „indem vorgeschriebene Literatur auf vorgeschriebene Art interpretiert wird“ (Ladenthin 2011, 36). Lässt sich hingegen, so wäre aus der Warte der ästhetischen Bildung zu fragen, „ein Lesen lehren und lernen, das nicht in einem (einigermaßen) eindeutigen, abfragbaren Verständnis münden muss, sondern unsicher bleiben kann, eher atmosphärisch als artikuliert, ein nur tastendes und vorsichtiges Deuten? Lässt sich ein Umgang mit Literatur vermitteln oder zumindest nahe bringen [sic] und fördern, bei dem die Aufmerksamkeit auf den Text mit der Aufmerksamkeit auf sich selbst verbunden ist?“ (Dietrich et al. 2013, 138f.) Und lässt sich im modernen Fremdsprachenunterricht eine bildungsrelevante Rezeption literarischer Texte pflegen, die der Deutungsoffenheit eines ‚literarischen Kunstwerks‘ gerecht wird?
Der Mangel an Angeboten literarisch-ästhetischen Lernens innerhalb des Kompetenzspektrums der Bildungsstandards ist in der Forschungsdebatte längst beschrieben und kritisiert worden (vgl. z.B. Rössler 2008; Küster 2015), ohne dass bislang gleichwohl eine allgemein akzeptierte Lösung auf der Hand läge. Insbesondere eine systematische Literaturdidaktik ist für die romanischen Schulsprachen etwa gegenüber der Englischdidaktik weiterhin ein gravierendes Desiderat.
Vor diesem Hintergrund soll im Rahmen des CERC-Projekts ein literaturdidaktisches Handbuch für die Zielgruppe der an Schulen und Hochschulen Lehrenden und Studierenden des Lehramtsfachs Französisch vorgelegt werden, in welches ausdrücklich das Wissen um die Unverzichtbarkeit ästhetischer Bildung einfließen soll. Erreicht werden soll dies einerseits durch die bewusste produktive Einbindung literaturtheoretischer und literaturwissenschaftlicher Überlegungen, andererseits durch die Ausrichtung der literaturdidaktischen Ausführungen auf exemplarische schulpraktische Unterrichtsperspektiven. Ausgehend von literarischen Gattungen und Formen, sollen inhaltsgeleitet musterhafte literaturdidaktische Entwürfe entwickelt werden, die sich in ihrer Gesamtheit idealerweise zu einer systematischen bildungsorientierten Didaktik der französischen Literatur zusammenfügen und dennoch je auch einzeln auf alternative Textbeispiele transferierbar sind.
Literatur
-
Aichinger, Wolfram (2013), Pintura Viva. Einführung in Bedeutung, Funktionen und Ausdrucksmittel literarischer Texte, Wien, Turia & Kant.
-
Bieri, Peter (22014), Wie wollen wir leben?, München, dtv.
-
Blume, Otto-Michael (2015): „Im Wunderland der Kompetenzen – Und wo bleiben die Inhalte?“, in: Französisch heute 46,3, 29-36.
-
Bredella, Lothar / Hallet, Wolfgang (2007): Literaturunterricht, Kompetenzen und Bildung, Trier, Wissenschaftlicher Verlag Trier.
-
Brune, Carlo (2020): Literarästhetische Literalität. Literaturvermittlung im Spannungsfeld von Kompetenzorientierung und Bildungsideal, Bielefeld, Transcript.
-
Dietrich, Cornelie / Krinninger, Dominik / Schubert, Volker (22013), Einführung in die Ästhetische Bildung, Weinheim / Basel, Beltz.
-
Ißler, Roland (2019), „Zeit für Bildung in Zeiten der Effizienzlogik. Ein Gang zum Brunnen oder: Vom Wert kultureller und humaner Bildung für den romanischen Fremdsprachenunterricht“, in: Stomporowski, Stephan / Redecker, Anke / Kaenders, Rainer (Hrsg.), Bildung – noch immer ein wertvoller Begriff?!, Göttingen, V&R, 177-198.
-
Ißler, Roland (2017), „Universitäre Lehrerbildung zwischen Tradition und Innovation. Kritische Reflexionen zur Fachkultur der Romanischen Philologie und Fremdsprachendidaktik“, in: Corti, Agustín / Wolf, Johanna (Hrsg.), Romanistische Fachdidaktik. Grundlagen – Theorien – Methoden, Münster, Waxmann, 37-53.
-
Küster, Lutz (2015), „Warum ästhetisch-literarisches Lernen im Fremdsprachenunterricht? Ausgewählte theoretische Fundierungen“, in: Ders. / Lütge, Christiane / Wieland, Katharina (Hrsg.), Literarisch-ästhetisches Lernen im Fremdsprachenunterricht. Theorie – Empirie – Unterrichtsperspektiven, Frankfurt am Main, Lang, 15-32.
-
Ladenthin, Volker (2011), „Kann man ästhetische Urteilskraft lehren? Grundsätzliche Überlegungen am Beispiel der Literatur“, in: Neuhaus, Stefan / Ruf, Oliver (Hrsg.), Perspektiven der Literaturvermittlung, Innsbruck: StudienVerlag, 27-37.
-
Leubner, Martin / Saupe, Anja / Richter, Matthias (Hrsg.) (32016), Literaturdidaktik, Berlin / Boston, de Gruyter.
-
Lütge, Christiane (Hrsg.) (2019), Grundthemen der Literaturwissenschaft: Literaturdidaktik, Berlin / Boston: de Gruyter.
-
Rössler, Andrea (2008), „Standards ohne Stoff? Anmerkungen zum Verschwinden bildungsrelevanter Inhalte aus den curricularen Vorgaben für den Französisch- und Spanischunterricht“, in: Lüger, Heinz-Helmut / Rössler, Andrea (Hrsg.), Wozu Bildungsstandards? Zwischen Input- und Outputorientierung in der Fremdsprachenvermittlung, Landau: Verlag Empirische Pädagogik, 35-58.
-
Schleicher, Regina / Zenga, Giselle (Hrsg.) (2019), Autonomie, Bildung und Ökonomie. Theorie und Praxis im Fremdsprachenunterricht, Stuttgart: ibidem.
-
Steinbrügge, Lieselotte (2016), Fremdsprache Literatur. Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht, Tübingen: Narr.
-
Surkamp, Carola / Nünning, Ansgar (Hrsg.) (42016; 22014), Englische Literatur unterrichten, 2 Bde., Bd. 1: Grundlagen und Methoden; Bd. 2: Unterrichtsmodelle und Materialien, Seelze, Klett / Kallmeyer.
-
Volkmann, Laurenz (2010), Fachdidaktik Englisch: Kultur und Sprache, Tübingen, Narr.
-
Weinrich, Harald (1988), „Literatur im Fremdsprachenunterricht – ja, aber mit Phantasie“, in: Ders.: Wege der Sprachkultur, München, dtv, 246-289.