„Alternative Literaturgeschichte“

CERC-Projekt von Paul Geyer

Die gängigen deutschen, französischen, italienischen ... Literaturgeschichten sind unbefriedigend, weil sie keinen roten Faden, keine regulative Idee haben. Sie schreiben ältere Kanonisierungsprozesse unreflektiert fort, ergänzen sie punktuell um soziologische, postkoloniale oder Genderperspektiven und bleiben an der Oberfläche der behandelten Literatur, weil sie viel zu viele Werke behandeln. Ich möchte hier das Konzept einer „alternativen“ Literaturgeschichte vorstellen; in meiner Literarischen Geschichte des modernen Menschen in Italien und Frankreich, von der die ersten beiden Bände zur Italienischen Renaissance (2013) und zur Französischen Klassik (2017) erschienen sind, versuche ich, dieses Konzept umzusetzen.

„Alternativ“ ist diese Literaturgeschichte, weil sie sehr selektiv ist: Sie besteht aus ausführlichen Interpretationen weniger literarischer Werke. Prinzip der Auswahl, Leitfaden der Interpretationen, ist die Geschichte des modernen europäischen Subjekts, das sich nirgends so nahe ist wie in der Geschichte der Literatur, die das wichtigste Medium seiner Herausbildung ist. Literatur weiß, auf ihre kreativ-konkretisierende Weise, besser als jede andere Kunst oder Wissensdisziplin, das unvergleichliche Einzelsubjekt zu modellieren. Literatur macht das moderne Subjekt. Wissenschaft und Philosophie, in ihrer verallgemeinernden Sprache, können das konkrete menschliche Subjekt nur diskursiv umstellen,
fassen können sie es nicht. Nur Literatur wird, auf ihre mimetisch-konkretisierende Weise, dem unvergleichlichen Einzelsubjekt gerecht. Und Literaturwissenschaft unternimmt hier den schwierigen Versuch der Vermittlung zwischen Konkretion und Abstraktion. Ihre Methodik ist, in eingehenden Analysen die Machart des sprachlichen Kunstwerks, seine Poetik zu analysieren, um nachzuvollziehen, mit welchen Mitteln es Bewusstseinswelten gestaltet.

Die „alternative“ literarische Geschichte des modernen Subjekts wertet und stellt die Frage nach dem literarischen Höhenkamm neu. Hohe Literatur in Europa seit dem Mittelalter definiere ich dadurch, dass sie die Geschichte und Vorgeschichte des modern-europäischen Kulturtypus mit seinem ironischen (im Sinne Friedrich Schlegels) und sentimentalischen (im Sinne Friedrich Schillers)Selbstverhältnis kritisch spiegelt und modelliert. Dem Höhenkamm der europäischen Literatur gehören Werke an, die die Frage nach einer authentischen menschlichen Existenz in einer entfremdenden Gesellschaft stellen, Werke, die das Verhältnis von materiellen zu immateriellen Werten verhandeln, Machtkritik üben und den Respekt vor der Einzigartigkeit jedes Individuums vermitteln.

Hohe Literatur schult allein schon durch ihren Charakter der Fiktionalität und der Selbstreferentialität das Möglichkeitsbewusstsein und die kontrafaktische Fantasie. Sie setzt ihr zweckfreies Reich des Spiels gegen den zunehmend durchökonomisierten Materialismus der Moderne und stiftet immaterielle Werte. Sie war nie affirmativ oder kompensatorisch in dem Sinne, dass sie der problematischen menschlichen Existenz eine unproblematische vorgespiegelt hätte. Das wäre Kitsch. Wenn man sich nicht abfinden will mit der Entwürdigung des modernen Subjekts zum Preisäquivalent und zur bewusstlosen Marionette des anonymen, globalisierten Kapitalismus, muss man die Geschichte der Herausbildung des modernen Subjekts pflegen und bewahren. Literatur aber begleitet diesen Prozess nicht nur diagnostisch. Sie ist einer seiner wichtigsten Katalysatoren und damit zugleich kritisches kulturelles Gedächtnis des künftigen Europa.

In dieser Hinsicht versteht sich die „alternative“ Literaturgeschichte zuletzt auch als Beitrag zur Arbeit an den europäischen Gründungsmythen. Es kommt darauf an, einen Kanon europäischer Literatur zu erarbeiten, in dem die Geschichte des modernen europäischen Bewusstseins erzählt wird. Auch daher muss diese Literaturgeschichte sehr selektiv sein: Leserinnen aus anderen Ländern können im Allgemeinen nicht so viel französische Literatur lesen wie Franzosen. Vielleicht ist der Blick von außen sogar besser geeignet als der Blick von innen, um zu begründen, welche Werke eines europäischen Landes europäischen Rang besitzen.

Literatur

  • Paul Geyer, Von Dante zu Ionesco: Literarische Geschichte des modernen Menschen in Ita lien und Frankreich, Hildesheim etc.: Olms, Bd. 1, Dante, Petrarca, Boccaccio, Machiavelli, Ariost, Tasso, 2013, Bd. 2, Die französische Klassik, 2017
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