Zur Konstruktion kultureller Identitäten im fingiert orientalischen Reisebriefroman der Aufklärung
CERC-Projekte von Hanna Nohe
Hanna Nohe verfolgt verschiedene Forschungsschwerpunkte mit zentralem Frankreichbezug. Dazu zählt zum einen die Konstruktion kultureller Identitäten im fingiert orientalischen Reisebriefroman der Aufklärung mit Texten wie Montesquieus Lettres persanes (1721), des Marquis d’Argens’ Lettres chinoises (1739) oder Ange Goudars L’espion chinois (1764). Ausgehend vom Konzept der imagined communities im Sinne Benedict Andersons und der Bedeutung einer Alterität zur Definition des Selbst, wie sie etwa Georg Friedrich Hegel in Phänomenologie des Geistes (1807) beschreibt und Edward Said in Orientalism (1979) ganz konkret bezüglich kollektiver Identitäten des ‚Westens‘ beobachtet, untersucht sie, wie die oben genannte Gattung sich besonders emblematisch dazu eignet, kulturelle Identitäten auf supranationalem Niveau zu konstruieren, da sie ‚orientalische’ Figuren als Beobachter nationaler Gesellschaften in Europa einsetzt. Diese Figuren fungieren als Alteritäten, die aufgrund ihres Exotismus die länderspezifischen Kulturen in Europa sich einander annähern lassen: In Anbetracht der Fremdheit der Beobachter-Figuren ähneln sie sich trotz ihrer Unterschiede. Gerade in Momenten kollektiver (Identitäts-)Krisen können solche Alteritäts-Konstruktionen zur internen Einheit beitragen.
Zum anderen analysiert sie aktuelle Romane von und über migrierende Subjekte in Frankreich. Dabei interessiert sie sich insbesondere für die literarische Darstellung der sozioökonomischen Perspektive im Migrationskontext zwischen globalem Süden und Norden. Sie zeigt, wie in Werken wie Cannibales (1999) von Mahi Binebine, Le ventre de l’Atlantique (2003) von Fatou Diome oder Des fourmis dans la bouche (2011) von Khadi Hane einerseits subalterne Figuren dazu dienen, die anhaltende sozioökonomische Differenz zwischen der ehemaligen Kolonialmacht und ihren ehemaligen Kolonien zu veranschaulichen, und andererseits die Romane selbst als kulturelle Güter aus dem Süden in umgekehrter Richtung zur finanziellen Vermittlung vom Norden in den Süden stehen.
Darüber hinaus beschäftigt sie sich mit Schnittpunkten zwischen Alter und Gender im Theater des siècle classique. Sie analysiert, wie in Stücken wie Molières L’École des femmes (1662), Le Tartuffe (1664) oder Le Malade imaginaire (1673) im geschlossenen und dadurch geschützten Raum des Dramas soziale Rollen zwischen Geschlechtern und Generationen ausgehandelt werden. Somit erweist sich, so die These, das Theater als Erprobungsraums sozialen Wandels.