Im Namen des Fortschritts, der Menschheit und des Vaterlandes: Eine deutsch-französische Säkularitätsgeschichte (1830er Jahre – 1914)
CERC-Projekt von Christina Schröer
‚Säkularität‘ ist nach wie vor eine zentrale Kategorie für die Selbstbeschreibung westlicher Gesellschaften. Im Zuge aktueller Herausforderungen durch den islamistischen Terror oder die Integration muslimischer Migranten wurden die Kategorien des ‚säkularen Staates‘ bzw. der ‚République laïque‘ in der öffentlichen Debatte wieder häufig bemüht. Doch bleiben die Begriffe im Unterschied zum Religionsbegriff inhaltlich blass. ‚Säkularität‘ oder auch ‚Laizität‘ beschreiben Abgrenzungsverhältnisse zur ‚Religion‘ – ohne dass klar wäre, für welche konkreten Werte oder Ziele sie stehen.
Von diesem Befund ausgehend, fragt das Projekt in vergleichender Perspektive nach der Entstehung und Entwicklung von vermeintlich ‚nationalen‘ Säkularitätsregimen im 19. Jahrhundert. Konkrete Untersuchungsgegenstände sind erstens akademische Debatten über die Grenzen von Religion (Philosophie, Naturwissenschaften, Soziologie), zweitens politische Projekte an den Rändern des religiösen Feldes (Wissenschafts- und Rechtspolitik) sowie drittens neureligiöse Praktiken und säkulare Kulte (v. a. Wissenschaftskulte und –religionen). Diese Debatten, Projekte und Praktiken, so eine These des Projektes, verschoben die traditionellen Grenzen des ‚religiösen Feldes‘ (Bourdieu) und eröffneten neue Handlungsspielräume, die mit dem Säkularitätsbegriff beschrieben werden können. Säkularität bezieht sich nur eingeschränkt auf Prozesse der ‚Entkirchlichung‘ oder des ‚religiösen Verfalls‘, wie sie von der älteren Religionsgeschichtsschreibung thematisiert wurden. Säkularität kann auch dort beobachtet werden, wo religiöse Praktiken, Sprachen und Funktionen auf prinzipiell nichtreligiös gedachte gesellschaftliche Bereiche übertragen wurden, wie z. B. auf die Wissenschaft (die kultartig überhöht wird) oder auf die Politik (z. B. im Nationalismus oder Kolonialismus). Zeitgenössische Akteure nutzten die entstehenden Handlungsspielräume zur Neuverhandlung gesellschaftlicher Normen und Beziehungen – sei es in emanzipatorischer oder integrierender Absicht, sei es zur Legitimation von rassistischer Unterdrückung und kolonialer Vorherrschaft.
Deutschland und Frankreich bieten sich als Fallbeispiele an, da sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Wahrnehmung der Zeitgenossen zwei konträre religionskulturelle Modelle repräsentierten (Kulturprotestantismus im Obrigkeitsstaat vs. republikanischer Laizismus), welche bis heute zur Erklärung kultureller Differenzen zwischen den beiden Ländern bemüht werden. In einer säkularitätsgeschichtlichen Perspektive fallen demgegenüber strukturelle Gemeinsamkeiten ins Auge: Grenzübergreifend kam in den 1830er Jahren verstärkt das Bedürfnis auf, sich mit Religion auf eine neue Art und Weise zu befassen. In Verknüpfung mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften zur weltanschaulichen Deutungsmacht wurde ein Transformationsprozess angestoßen, der mit dem Religionsbegriff allein nicht hinreichend beschrieben werden kann. Im Namen teils konkurrierender, teils sich überlappender Ideenhorizonte – so des Fortschritts, der Menschheit oder des Vaterlands – entstanden in beiden Ländern säkulare Dogmen, Akteure und Institutionen. Am Ende des Untersuchungszeitraums thematisierten in beiden Ländern Religionssoziologen wie Max Weber und Émile Durkheim die beobachtete Transformation erstmals als ‚Säkularisierung‘. Und auch die nicht zu leugnenden Unterschiede zwischen den in Deutschland und Frankreich entstehenden Säkularitätsregimen lassen sich nicht allein durch konfessionelle oder nationale Vorprägungen, sondern erst mit Hilfe einer Analyse der politischen Kulturen beider Länder sowie deren wechselseitiger Wahrnehmung und Verflechtung erklären.
Religion und Säkularität, Kulturprotestantismus und Laizismus entpuppen sich als zwei Seiten einer Medaille, deren Geschichte zusammen erzählt werden muss. Ziel ist es, den von den Nationalhistoriographien beider Länder lange Zeit fortgeschriebenen religionsgeschichtlichen Narrativen ein differenziertes Bild entgegenzusetzen, sowie daran anschließend die Perspektive einer deutsch-französischen Säkularitätsgeschichte zu entwickeln, die in der Lage ist, die religiöse Transformation westeuropäischer Gesellschaften im 19. Jahrhundert neu zu verstehen.
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