Unter der Fragestellung „Wie gehen Politik und Gesellschaft mit Zuwanderung um?“ diskutierten am 24.9. in unserer Deutsch-Französischen Zukunftswerkstatt zwei erfahrene Expertinnen aus Deutschland und Frankreich miteinander: Honey Deihimi war Integrationsbeauftragte des Landes Niedersachsen und Leiterin des Referats für gesellschaftliche Integration bei der Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration. Seit September arbeitet sie als Senior Vice President Corporate Affairs bei idealo. Virginie Guiraudon ist Professorin und Forschungsdirektorin für Soziologie und Politikwissenschaften am Center for European and Comparative Studies bei Science Po Paris.
Die Diskussion drehte sich um die aktuellen Herausforderungen der Migrationspolitik und ermöglichte den direkten Vergleich der Situationen in Deutschland und Frankreich, sowohl in gesellschaftlicher als auch politischer Hinsicht.
Dabei wurde besonders deutlich, dass die Komplexität der Situation beide Länder vor große Schwierigkeiten stellt, die ein strukturelles Umdenken erfordern. Diese Schwierigkeiten äußern sich jedoch auf unterschiedliche Art und Weise: Ein interessanter Aspekt, auf den Frau Guiraudon Wert legte, ist die Tatsache, dass Frankreich insgesamt deutlich geringere Einwanderungszahlen verzeichnet als Deutschland. Die islamistischen Terroranschläge im Jahr 2015 führten bereits vor inzwischen fast zehn Jahren dazu, dass die Grenzen aus sicherheitspolitischen Gründen geschlossen wurden. In der Diskussion wurde deutlich, dass diese Maßnahmen gleichzeitig der Terrorabwehr sowie auch der Migrationskontrolle dienen: Das sogenannte "mouvement secondaire" – die Einwanderung abgelehnter Asylbewerber aus Deutschland oder anderen europäischen Ländern – wird so weitgehend verhindert.
Dennoch zeigt sich spätestens seit diesem Zeitraum ein deutlicher Anstieg der extremrechten Parteien, interessanterweise laut Umfragen besonders in Regionen, die kaum von Zuwanderung betroffen sind. Dabei gibt es auf kommunaler Ebene in Frankreich weniger spürbare Überforderung als in Deutschland, wo die Herausforderungen bei der Aufnahme, Registrierung, gerechten Verteilung und Integration von Zuwanderern immer schwieriger werden. Frau Deihimi betonte, dass das Problem vielerorts nicht die Menschen selbst seien, sondern die unzureichenden Strukturen. Grenzschließungen böten demnach ohnehin keine Lösung, da sie die Migration nicht stoppen, sondern vielmehr den Ausbau der Integrations-Infrastruktur und die Bekämpfung des Islamismus verlangsamen würden.
Frau Guiraudon verdeutlichte, dass Frankreich allein durch seinen historischen Hintergrund schon immer von Zuwanderung betroffen war, was durch zahlreiche „gemischte“ Ehen noch verstärkt wird und gerade in den letzten Jahren den Rassismus im Land vorantreibt. Deutschland kämpft währenddessen besonders mit der Armut unter Migranten, was auf strukturelle Defizite hinweist. Gleichzeitig wird in Deutschland oft behauptet, es gebe keine Diskriminierung, was die Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg jüngst erneut widerlegten.
Auf die Frage, ob von Zugewanderten bei der Integration mehr verlangt werde als von gebürtigen Deutschen, antwortete Frau Deihimi aus eigener Erfahrung mit einem klaren Ja. Sie forderte, dass alle Bürger gleichbehandelt werden sollten, unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund. Der Begriff der „Leitkultur“ bleibt umstritten. Grundvoraussetzungen wie die Beherrschung der deutschen Sprache und die Fähigkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, seien jedoch notwendig. Gesetze sollten aber für alle gleichermaßen gelten und bei Verstößen müssten alle dieselben Konsequenzen tragen.
Zum Thema der Verteilungsgerechtigkeit von ukrainischen Flüchtlingen zwischen Deutschland und Frankreich äußerte Frau Guiraudon eine pessimistische Prognose: Angesichts der geringen Zahl aufgenommener Flüchtlinge in den Jahren 2015/16 und des politischen Aufstiegs des Rassemblement National sei es unwahrscheinlich, dass Frankreich in Zukunft eine größere Aufnahmebereitschaft zeigen werde.
Abschließend betonte Frau Deihimi die Notwendigkeit, die europäische Asylpolitik zu reformieren. EU-Außenstellen sollten stärker als Transit-Staaten genutzt werden, um denjenigen, die ein Recht auf Asyl haben, dieses zu gewähren. Damit könnten gefährliche Schlepperrouten eingedämmt, zahlreiche Todesfälle verhindert und legale Zugangswege für Fachkräfte eröffnet werden.
Als abschließendes Fazit konnte festgehalten werden, dass Migration sich nicht aufhalten lasse, es aber neue Ansätze brauche, um auf struktureller Ebene angemessen darauf zu reagieren.
(Carolin Pütz)