Am 16. Mai hielt Didier Fassin, der am Collège de France einen Lehrstuhl für Moralische Fragen und politische Herausforderungen in zeitgenössischen Gesellschaften innehat, auf Einladung des CERC und der Émile Durkheim-Forschungsstelle der Universität Bonn einen Vortrag zum Thema La violence politique de la frontière: Comment l’Europe sous-traite le contrôle des migrations.
In seinem beeindruckenden Beitrag berichtete Fassin anhand von zahlreichen Einzelschicksalen, wie die aktuelle EU-Politik die Praktiken des Exils an Europas Grenzen beeinflusst. Als Arzt und Anthropologe hat er selbst fünf Jahre lang ethnographische Forschung in den Alpen an der Grenze zwischen Italien und Frankreich betrieben und in dieser Zeit Interviews mit Migranten durchgeführt und die Arbeit der Ordnungskräfte und anderer Akteure vor Ort beobachten können. Er zeigte auf, wie die europäischen Politik die Lebensrealität der Migranten beeinflusst und betonte, dass die offiziell als "Migrationskrise" diskutierte Krise eigentlich eine moralische Krise Europas sei, das seine eigenen humanitären Prinzipien und Werte verletzt. In diesem Kontext sensibilisierte Fassin auch für den sprachlichen Umgang mit dem Thema: Dem Begriff der Migration zieht er persönlich den neutraleren Begriff des Exils vor, den er in seinen Ausführungen durchgehend verwandte.
Im Anschluss an den Vortrag entspann sich in dem voll besetzten Vortragsraum unter dem Dach eine kontroverse Diskussion: Neben viel Beifall für Fassins humanitäres Engagement und seine differenzierten Ausführungen gab es auch kritische Nachfragen, wie man die europäischen Grenzen denn besser kontrollieren könne. Fassin forderte immer wieder dazu auf, sich mit Zahlen und Fakten auseinanderzusetzen, um die aktuellen Debatten zu versachlichen und den betroffenen Menschen gerecht zu werden. Nach Ende der offiziellen Diskussionszeit wurde das Gespräch noch lange bei einem Apéritif auf der Dachterrasse des CERC fortgesetzt.