Mit der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages am 22. Januar 1963 ebneten Charles de Gaulle und Konrad Adenauer den Weg für eine enge deutsch-französische Kooperation. Dieser Freundschaftsvertrag, dem nach dem Zweiten Weltkrieg eine mühsame Phase der Annäherung vorangegangen war, bedeutete einen entscheidenden Wendepunkt in der deutsch-französischen und europäischen Geschichte: Parallel zur Überwindung der vermeintlichen „Erbfeindschaft“ wurden die Voraussetzungen für ein geeintes Europa geschaffen.
Anlässlich des 60. Jubiläums der Vertragsunterzeichung erklärte die Universität Bonn das akademische Jahr 2022/2023 zum „Universitären Frankreichjahr“ unter dem Motto „BONN*E FÊTE – 60 Jahre Élysée-Vertrag“. In Kooperation des Prorektorats für Internationales, des CERC und des Institut français Bonn wurden von Oktober 2022 bis Juli 2023 eine Fülle an thematisch breit gefächerten Veranstaltungen zu Frankreich und den deutsch-französischen Beziehungen durchgeführt. Dabei ging es u.a. um Verflechtungen zwischen beiden Ländern in Kunst oder Literatur, um Kooperationen in Wirtschaft und Politik, oder allgemeiner um Einblicke in die Kultur des Nachbarlandes, um die gemeinsame Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ziel war es, in der universitären und breiteren Bonner Öffentlichkeit das Interesse am Nachbarn zu befördern und gleichzeitig neue Perspektiven auf die deutsch-französischen Beziehungen zu eröffnen und zu diskutieren.
Als Auftakt diente die CERC-Jahrestagung am 27. und 28. Oktober 2022 im Festsaal der Universität zum Thema „Denkkulturen. Kognitive Ordnungen und kulturelle Paradigmen in der europäischen Verflechtung“. Literatur, Kunst, Geschichte und Politik liegen bestimmte, normativ geprägte, Denkkulturen zugrunde. In den Vorträgen wurden jene Denkkulturen in ihren Entstehungen, im transnationalen Vergleich und im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Identität und das kollektive Handeln beleuchtet, mit einer Schwerpunktsetzung auf Deutschland und Frankreich. Die Auseinandersetzung mit „Denkordnungen“ gehört zu den Schwerpunktthemen am Frankreichzentrum CERC. Auch Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford), CERC-Distinguished Professor Emeritus, referierte am 8. Dezember anlässlich der Gustav-Stresemann-Lecture 2022 unter dem Motto BONN*E FÊTE zu diesem Oberthema mit seinem Beitrag „‘Europa‘ – Eine alternde Utopie“.
Im Zuge des Frankreichjahres BONN*E FÊTE wurde am 22. November das 70jährige Bestehen des Institut français Bonn besonders gefeiert, das 1952 gegründet und 1962 an die Universität Bonn angegliedert wurde. Nach Grußworten von Cyril Blondel, Botschaftsrat für Kultur der französischen Botschaft in Deutschland und Leiter des Institut français Deutschland, Prof. Dr. Annette Scheersoi, Prorektorin für Nachhaltige Entwicklung der Universität Bonn, Prof. Dr. Volker Kronenberg, Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn, und Melanie Grabowy, Bürgermeisterin der Stadt Bonn, wurde die Ausstellung „Bienvenue! 70 Jahre Institut français in Bonn“ eröffnet. Seit der Gründung des CERC im Jahr 2020 ist das Institut français ein wichtiger Kooperationspartner des universitären Frankreichzentrums.
Am 17. Januar 2023 erreichte das Frankreichjahr einen ersten Höhepunkt: In den Räumlichkeiten des Hauses der Geschichte in Bonn fand im Rahmen des Deutsch-Französischen Tages die ganztätige Veranstaltung „BONN*E FÊTE - 60 Jahre deutsch-französische Beziehungsgeschichten“ zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen statt. Im Rahmen von verschiedenen Workshops hatten Schüler*innen und Studierende Gelegenheit, sich kreativ und inhaltlich mit dem Jubiläumsthema auseinanderzusetzen. Unter der Leitung von Prof. Dr. Peter Geiss (Universität Bonn), Dr. Matthieu Osmont (Institut français Bonn), Dr. Christina Schröer (CERC/Universität Bonn), Prof. Dr. Anne-Marie Bonnet (CERC/Universität Bonn), Prof. Dr. Birgit Ulrike Münch (Universität Bonn), Sarah Barnoin und Dr. Daniel Weber (beide GSI Bonn) wurden Fragen und Ansätze entwickelt, die auf die bessere Kenntnis und aktive Gestaltung der deutsch-französischen Beziehungen abzielten. Wie kann der Austausch der jungen Generationen helfen, sich besser zu verständigen und aktuelle Baustellen gemeinsam anzugehen? Aufgegriffen wurden diese Fragen auch in einer Podiumsdiskussion, die abends im Vortragssaal des Hauses der Geschichte mit hochkarätigen Gästen durchgeführt wurde. Gemeinsam mit den Schüler*innen und Studierenden diskutierten Christophe Arend, Leiter des Pariser Büros Saarbrücken, Pascale Hugues, Journalistin und Schriftstellerin, Prof. Dr. Ludger Kühnhardt, Direktor am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) der Universität Bonn und Prof. Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen a. D. diese Fragen.
Deutsch-französische Beziehungen werden am CERC stets in einem europäischen Kontext behandelt. So stand auch die Europawoche im Jubiläumsjahr ganz unter dem Motto BONN*E FÊTE: Am 5. Mai wurde die Ausstellung „What Is Europe To You“ der italienischen Künstlerin Lisa Borgiani im Arkadenhof der Universität eröffnet. Borgiani hat auf ihrer Europareise die Frage „What is Europe to you?“ an Bürger*innen unterschiedlicher Länder und Herkunft gerichtet und diese fotografiert. Das Projekt wurde vom Goethe-Institut initiiert und gemeinsam mit dem CERC, dem Institut français Bonn, dem Instituto Camoes Köln und dem Istituto Italiano di Cultura realisiert.
Am 6. Mai war das CERC mit einem Stand auf dem Europamarkt der Stadt Bonn vertreten. Nach einem Empfang bei der Oberbürgermeisterin, Katja Dörner, informierten die CERC-Mitarbeiter*innen über europabezogene Aktivitäten der Universität sowie das Programm des Frankreichzentrums und kamen mit zahlreichen frankreichinteressierten Passanten*innen ins Gespräch.
Die Europawoche wurde mit zwei Workshops und einer sich daran anschließenden Podiumsdiskussion am 9. Mai in den Räumlichkeiten der Friedrich-Ebert-Stiftung abgeschlossen. Ein Workshop wurde von Dr. Shushanik Minasyan, Politikwissenschaftlerin an der Universität Bonn, geleitet und widmete sich angesichts der globalen Herausforderungen, wie dem Krieg in der Ukraine, sicherheits- und geopolitischen Fragen, die aktuell Europa betreffen. Der andere Workshop wurde von Enrico Liedtke und Florian Engels, ebenfalls Politikwissenschaftler an der Universität Bonn, durchgeführt. Hierbei ging es vor allem um demokratische Werte und gesellschaftliche Partizipation in der EU. An die dort erarbeiteten Impulse und Fragestellungen knüpften die Podiumsgäste Dr. Claire Demesmay, Leiterin des Referats für interkulturelle Aus- und Weiterbildung des Deutsch-Französischen Jugendwerks in Berlin, Nicolas Ehler, Länderdirektor Frankreich und Leiter des Goethe-Instituts Paris, und Josef Neumann, MdL, an. Die Moderation übernahm Gwendolin Jungblut (The Leadership).
Eine Reihe von Vorträgen gab im Jubiläumsjahr Einblicke in die französische und frankophone Kultur. Ein erster Höhepunkt war der Beitrag von Benoît Peeters in der „Ringvorlesung Frankreich: Zeitgenössische frankophone Comics“ vom 19. Dezember 2022 im Festsaal. Der Lehrstuhlinhaber für „création artistique contemporaine“ am Pariser Collège de France erlangte durch die Comic-Reihe „Les Cités obscures“ und seine Biographien über Hergé und Jacques Derrida große Bekanntheit. In seinem Vortrag sprach er über die Entfaltung von Kreativität am Beispiel des Comicschreibens, von der Idee zum Skript bzw. ersten Entwurf bis zur Fertigstellung. In einer Lesung in Kooperation mit dem Literaturhaus Bonn stellte der senegalesische Sozialwissenschaftler, Autor und Musiker Felwine Sarr am 24. Mai sein Buch „Les lieux qu’habitent mes rêves“ vor. Und am 26. Juni sprach Prof. Dr. Anne-Marie Bonnet im Rahmen der „Ringvorlesung Frankreich“ des Sommersemesters über Krise als „Chance“ in den bildenden Künsten.
Aktuelle politische Herausforderungen waren bei vielen BONN*E-FÊTE-Veranstaltungen ein Thema. Anlässlich der großen Unruhen in Frankreich wurden im Rahmen der „Deutsch-französischen Zukunftswerkstatt“ am 4. April das französische Rentensystem und die von Staatspräsident Emmanuel Macron durchgeführte Reform thematisiert. Die deutschen und französischen Expert*innen Natalie Klauser, Referentin für den Themenbereich Demographischer Wandel bei der Konrad-Adenauer-Stiftung Deutschland, Yann Wernert, Policy Fellow am Jacques Delors Centre, und Bruno Palier, Forschungsleiter des CNRS in Sciences Po (Centre d'études européennes et de politique comparée) diskutierten Unterschiede im Rentensystem und in der Protestkultur beider Länder, bevor sie gemeinsam über Lösungsmöglichkeiten für die aktuelle Krise nachdachten. Aufgrund der großen Aktualität war dieses Thema Gegenstand einer zweiten Veranstaltung, organisiert in Kooperation mit dem Frankreichzentrum der FU Berlin, dem Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung (IZKT) der Universität Stuttgart und dem Centrum Frankreich - Frankophonie der TU Dresden für das Netzwerk der universitären Frankreich- und Frankophoniezentren in Deutschland: Am 13. Juni ging es nochmals um die Frage „Was ist bloß in Frankreich los? Rentenreform, Proteste und die Folgen“. Zu Gast waren CERC-Beiratsmitglied Hélène Miard-Delacroix, Professorin für Geschichte und Kultur des zeitgenössischen Deutschlands an der Sorbonne, und Kolja Lindner, der an der Université Paris-Nanterre politische Theorie lehrt.
Am 4.7. gab es dann nochmals in der „Ringvorlesung Frankreich“ Gelegenheit, im Rahmen von BONN*E FÊTE nach den Zusammenhängen von Geschichte und Politik zu fragen. Die Journalistin und Autorin Géraldine Schwarz und Corine Defrance, Historikerin an der Panthéon-Sorbonne, diskutierten mit dem Moderator Michael Krons über Krisen als Chance für die deutsch-französischen Beziehungen mit einem speziellen Fokus auf die Rolle der Erinnerungskultur/Rezeption/Aufarbeitung.
Ein weiterer Höhepunkt und gleichzeitig Abschluss des universitären Frankreichjahres BONN*E FÊTE war das Wissenschaftsfestival am 9. Juli auf der Hofgartenwiese, bei dem das CERC gemeinsam mit dem Prorektorat für Internationales und dem Institut français eine deutsch-französische Kreativwerkstatt anbot. Mit Gewinnspielen, wie einem Sprichwörterrätsel, Bilderrätseln der ARTE-Sendung Karambolage oder deutsch-französischen Memoryspielen wurden deutsche und französische Besonderheiten entdeckt. Die Teilnehmenden erwarteten kleine deutsch-französische Preise. Nach einer kurzen Rede der Prorektorin Prof. Dr. Birgit Ulrike Münch über das Elysée-Jubiläum als Schwerpunktthema ihres Prorektorats beim Wissenschaftsfestival trat die Hip-Hop-Band „Zweierpasch“ auf der großen Bühne auf und verarbeitete die deutsch-französischen Beziehungen musikalisch. Zweierpasch ist Träger des Adenauer-de Gaulle-Preises und wurde 2017 zu Freiburgs „Band des Jahres“ ernannt.
Insgesamt verfolgte das CERC gemeinsam mit seinen Partnern im Rahmen von BONN*E FÊTE das Ziel, einem breiten Publikum deutsch-französische Themen näher zu bringen, um Interesse für historischen, gesellschaftlichen und politischen Prozessen anzuregen. Der Austausch mit Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Journalist*innen und Politiker*innen ermöglichte eine differenzierte Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart. Die Erinnerung an den Elysée-Vertrag und das Aufdecken komplexer Zusammenhänge beinhaltete dabei stets auch die Eröffnung neuer deutsch-französischer Perspektiven und die Suche nach einem gemeinsamen Weg in und für Europa.
Bericht: Ümmü Zor